Kurz vor dem Raid
Manchmal darf ich auf der Arbeit dem Schalk in meinem Nacken die Kontrolle überlassen, wobei dann sowas wie das Folgende heraus kommt. Ist natürlich in erster Linie was für WoW Freaks, aber trotzdem vielleicht auch für andere lustig. Zum Titel: Ein Raid ist ein Zusammenkommen von bis zu 50 Spielern (glaube ich), um besonders schwere Instanzen mit turboharten Endgegnern meistern zu können. Ich habe vier mal die selbe Situation aus der Sicht unterschiedlicher Spieler(-typen) beschrieben. Dabei hab ich einfach mal tief in die Klischeekiste gegriffen und alle kursierenden Vorurteile in die Texte miteinfließen lassen. Have fun!
Hexenmeister
Ein dunkler Kellerraum, der unverwechselbare Geruch von abgetragenen Socken hängt in der Luft. Torben lehnt sich behaglich in seinem Stuhl zurück, während die beschworene Teufelswache seines Hexenmeisters das letzte Leben aus einem Gegner quetscht. Aus einer Musikanlage kreischt der Sänger von Cradle of Filth seine butrünstige Zustimmung. Als Torben mit einem Grinsen auf seine Gebrechens-Zauber wechselt, um selbst in den Kampf einzugreifen, fällt sein Blick auf den Totenkopf- Wecker neben seinem Monitor. „Verdammt“, entfährt es dem Jungen mit den vielen Piercings, „in einer halben Stunde ist schon der Raid und ich habe vergessen einkaufen zu gehen!“ Torben hat furchtbaren Hunger, weil er schon den ganzen Tag gezockt hat und ihm ist klar, dass er unmöglich die ganze Nacht ohne Chips und Cola auskommen kann. Sehnsüchtig fällt sein Blick auf Cerberus, seinen schwarzen Kater, welcher wie üblich faul auf seiner von Motten zerfressenen Decke liegt. Könnte er doch nur seinen treuen Familiar zum Supermarkt schicken, um ihn mit lebenswichtigem Fett und Zucker zu versorgen. Aber dafür hätte das dämliche Vieh einfach nicht genügend Grips. Torben nimmt sich vor dem Kater später noch ein paar mal absichtlich auf den Schwanz zu treten.
Mit einem gequälten Gesichtsausdruck erhebt sich Torben schließlich missmutig und greift nach seiner Lederjacke. Schnell in die abgetragenen Sneakers geschlüpft und die Kellertreppe hinauf. Als er in die Sonne hinaustritt, zischt er wie eine gereizte Tarantel und hält einen Arm vor die schmerzenden Augen. Dann fällt ihm sein kleiner Bruder auf, welcher gerade vor dem Haus sein Fahrrad putzt. „Brüderlein, bei Fuß! Du musst mich schnell zum Supermarkt fahren, das ist ein Notfall, keine Widerrede!“ Und siehe da, schon hat ihn sein Schläge-befürchtender Bruder am Ziel abgeliefert.
Im Supermarkt huscht Torben nun wie ein unheilvoller Schatten durch die Gänge und ist blitzschnell mit seiner Beute an der Kasse. Die junge und hübsche Kassiererin schenkt ihm ein warmherziges Lächeln als sie ihm das Wechselgeld in die Hand drückt. Torben‘s Gesichtszüge bleiben erstarrt als er mit ruhiger Stimme meint:“ Deine Schönheit wird eines Tages dahinwelken, so wie alles einmal dem Verfall zum Opfer fallen muss…“ Die Dame ist zu schockiert, um ihm etwas darauf zu entgegnen und blickt ihm nur fassungslos hinterher.
Draußen nimmt Torben wieder auf dem Fahrrad hinter seinem noch immer schwitzenden Bruder platz. Mit einem gezielten Knuff in die Niere spornt er sein Pferdchen an. Wieder zu Hause angekommen blickt Torben abfällig auf seinen Bruder herab: „Du bist ja völlig fertig von dem kleinen Ausritt…Du solltest mehr Sport treiben, um demnächst nicht so eine erbärmliche Vorstellung abliefern zu müssen.“ Sein Bruder nimmt die Schmähung wie gewohnt kommentarlos entgegen und weißt nur missmutig in Richtung der Kellertreppe. „Verkriech dich lieber wieder in deinem Loch, damit dir das Sonnenlicht keine bleibenden Schäden zufügt.“ Torben beschließt seinem Bruder für diese Frechheit später nach dem Raid das Fahrrad zu demontieren. Dann begibt er sich eiligst wieder vor seinen Rechner, um pünktlich am Raid teilnehmen zu können. Bei dem Gedanken bald wieder abnehmende Lebensstreifen anschauen zu dürfen wird Torben ganz warm ums Herz.
Paladin
Ein sonnendurchfluteter Raum, moderne Büromöbel von schlichter Eleganz. Richard sitzt vor dem Rechner vom Papi und geht nochmal fieberhaft sein Inventar durch. Sind auch die Hotkeys richtig angeordnet und bequem zu erreichen? Alles muss stimmen, damit Richard’s Paladin im anstehenden Raid gebührend rulen kann und ihn seine Gildenmitglieder endlich ernst nehmen.
„Ich bin keine Healing Bitch“, grinst Richard und entblößt dabei zwei schneeweiße, perfekte Zahnreihen. „Heute werde ich es endlich unter Beweis stellen.“ Noch einmal fährt er bewundernd mit dem Mauszeiger über seine neuen Errungenschaften, die beiden Epics, die ihm sein Vater über Ebay spendiert hat. „Schaden“, durchzuckt es Richard‘s Gehirn und ein ungewohnter, aber wohliger Schauer läuft ihm den Rücken herunter. Im Hintergrund singt Freddy Mercury „I want to break free“ und Richard formt die Worte mit seinen Lippen mit, während er eine blonde Strähne aus dem Gesicht streicht.
Plötzlich öffnet sich ein Popup-Fenster seines Terminplaners und Richard schlägt sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Der Raid! Und ich habe noch nichts eingekauft! Mamaaaaa!!!“ In Urlaub. Meine Eltern sind all-inclusive in der Dom. Rep., erinnert er sich. Also allein zum Supermarkt. Er hat seine Mutter häufig davon erzählen hören, so schwer kann das nicht sein. Immerhin ist Richard jetzt 30 und kann sehr wohl auf sich alleine achtgeben.
Schnell flitzt er nochmal auf den Balkon, um die Temperatur zu testen. Ein wenig kühl ist es schon, denkt er sich, als er seinen gefütterten Mantel vom Haken nimmt. Nochmal die Schnürsenkel kontrolliert, nochmal kurz durch die Haare gekämmt und es kann los gehen.
Im Benz vom Papi arbeitet Richard zunächst sein bewährtes Vier-Punkte-System ab: Spiegel einstellen, Sitz nachjustieren, Anschnallen, Airbag-Anzeige leuchtet und signalisiert Funktionsbereitschaft. Der große Wagen gibt ihm ein Gefühl von Sicherheit, als er vorsichtig die Kupplung kommen lässt. Eines Tages wird er mit dem Geschoß raus aus dem verkehrsberuhigten Vorort auf die Autobahn fahren, nimmt er sich vor. Doch jetzt drängt die Zeit. Richard rechnet kurz im Kopf durch wie schnell er bei gegebener Strecke unter Einhaltung der gesetzlich vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeit zum Supermarkt und zurück ist. Zufrieden lächelnd kann er ein Bonus-Zeitfenster von 7 Minuten verbuchen. Genug Zeit, um vor dem Raid noch ein letztes Mal die Hotkeys durchzugehen. Perfekt.
Im Supermarkt geht Richard methodisch vor, weiß genau, was er will. Mit zwei Flaschen Bergquellwasser und einem Bündel Bananen steht er schließlich vor einer sehr hübschen Kassiererin, welche ihn offensichtlich mit Interesse mustert und anlächelt. Richard merkt wie er rot anläuft und würde sich am liebsten mit einer Angstblase in Sicherheit bubbeln. Aber das kann nur sein Paladin Lancelot. „Ich bin schon vergeben und möchte treu sein“, stammelt Richard als er rückwärts zur Tür geht, „behalte das Wechselgeld.“ Die Kassiererin muss lachen und erhebt sich mit künstlicher Empörung von ihrem Sitz „ich habe doch garnichts…“ Doch Richard sitzt schon wieder in Papis Benz und schnallt sich an.
Rechtzeitig sitzt er genau 7 Minuten vor Raid-Beginn wieder vor dem Rechner. Er gibt das Admin-Kennwort seines Vaters „Holy Family“ ein und startet kurz darauf World of Warcraft. Nachdem Richard nochmal alles kontrolliert hat, vertreibt er sich die Zeit bis zum Raid damit seinen Charakter über grasende Häschen zu stellen, damit sie schwerer von schlag-wütigen Spielern entdeckt werden können. Warum kann man friedliche Tiere nur nicht buffen? Richard spürt einen Stich im Herzen, doch er darf keine Schwäche zeigen, seine Gilde braucht ihn jetzt.
Krieger
„Was ist das schönste im Leben eines Mannes?“ – „Die weite Steppe, ein schnelles Pferd, der Falke auf seiner Faust und der Wind in seinem Haar!“ – „Falsch!! Conan – sag du es mir!“ – „Zu kämpfen mit dem Feind, ihn zu verfolgen und zu vernichten und sich zu erfreuen am Geschrei der Weiber!“
Horst drückt die Pause-Taste an seinem DVD-Player und wiederholt den Text andächtig Wort für Wort. Endlich kann er sein Credo auswendig. Er liebt die simple Schönheit des Films, den er in vier verschiedenen Special Editions im Regal stehen hat. Dann fällt sein Blick, vorbei an den leeren Bierflaschen, auf seinen alten Röhrenmonitor. Die leuchtende Henkersaxt in der Hand, wartet sein Taurenkrieger darauf, dass ihm sein gnadenloser Puppenspieler Kommandos übermittelt. Horst legt seine Hand zärtlich auf die beiden Tasten seiner Hotkeys „tödlicher Stoß“ und „Hinrichten.“ In der Hitze des Gefechts verwechselt er die beiden manchmal, vor allem, wenn er ein Six-Pack intus hat. Mit der anderen Hand dreht er den Lautstärkeregler seiner Anlage höher, bis Wolle Petry sein „Da geht mir voll einer ab!“ beinahe ohrenbetäubend durch das kleine Apartmentzimmer grölt.
Als sein Magen knurrt wirft er einen Blick auf die Uhr. Noch eine halbe Stunde bis zum Raid und sein Kühlschrank ist leer. Ohne Eile erhebt sich Horst und schlüpft in seine abgetragenen Turnschuhe. Er will schnell noch mal zum Supermarkt joggen, um für die lange WoW-Nacht gerüstet zu sein. Er joggt nicht aus Eile, sondern, um auch im Real Life halbwegs fit zu bleiben . „Ohne ihren Off-Krieger fangen die eh nicht an“, denkt er sich mit Genugtuung als er die Innentasche seiner Jacke nach Kippen durchsucht.
Schweißtreibende zehn Minuten später ist er beim Supermarkt angekommen. „Moin!“ ruft er in den Laden hinein, als er die Regale nach seinen Grundnahrungsmitteln absucht. Befriedigt häuft er kurz darauf eine Mikrowellen-Currywurst, Bierflaschen und Zigarettenschachteln auf das Fließband. Als er ihm die hübsche Verkäuferin auffällt, legt er noch eine Packung Kaugummis für frischen Atem und ein Päckchen Kondome dazu. Die Verkäuferin runzelt die Stirn und hält ihren Blick gesenkt. „Bist du öfters hier?“ durchbricht Horst die Stille und versucht möglichst unauffällig seinen Bauch einzuziehen. Sein Gegenüber mustert ihn ausdruckslos. „5 Tage die Woche…wie sonst auch. „Ah ja…“ meint Horst, als er seinen Blick unverhohlen den Rollercoaster ihrer Kurven fahren lässt. „Vielleicht können wir ja mal gemeinsam raiden…äh, weggehen oder so, meine ich..“ Sorry, aber das würde meinem Freund sicher nicht gefallen,“ entgegnet sie und Horst’s Hände ballen sich unwillkürlich zu Fäusten. „Ach so, kein Thema, bis dann mal!“ sagt er vielleicht eine Spur zu energisch als er in Richtung Ausgang geht. „Kleidchen-Träger sind eh doof“, denkt er sich auf dem Heimweg und muss sich dabei halb totlachen.
Schon bald sitzt er, eine glimmende Zigarette lässig im Mundwinkel balancierend, wieder vor seinem Rechner. Dampfendes Fastfood und eine geöffnete Flasche Bier stehen griffbereit. Der Raid kann losgehen. Horst schließt nochmal kurz die Augen „Was ist das Schönste im Leben eines Mannes…?“
Magier
Eine bunte Welt der optischen Reizüberflutung. Tim’s Zimmer ist mit Repliken flippig-bunter Designermöbel ausstaffiert und die Wände sind mit Manga-Postern und Kinoplakaten tapeziert. Neben seinem neongrünen Flatscreen blubbert eine hypnotische Lavalampe träge vor sich hin. Tim selbst sieht aus, als wäre er einem seiner Animé-Plakate entsprungen, mit hochgestylten Haaren und glitzernder Rapper-Hose.
Farbenfrohe Explosionen befördern ganze Gegnerhorden in den Äther als Tim mit seinem Blutelfenmagier „Blastermage3000“ Amok läuft. Er bearbeitet dabei sein Keyboard wie eine Schreibmaschine, während scheinbar jeder Anschlag auf der Tastatur von einem Technobeat aus seiner Stereoanlage begleitet wird: „Firestarter“ von Prodigy, Tim’s Lieblingslied auf Endlosschleife.
Plötzlich schafft es ein Monster bis auf wenige Meter an seinen geliebten Charakter heran. Tim ist kreidebleich. Mit einem panischen Keuchen hämmert er auf „Arkane Explosion“ bis die Taste entnervt aus dem Keyboard springt. Doch im letzten Moment kippt der Titan aus den Latschen und Tim sackt schweißgebadet in seinem Stuhl zusammen. Das war knapp. Um sein Ego zu stabilisieren postet Tim schnell den hohen Crit, mit dem er das Vieh gelegt hat, in den Team Chat.
„Noch eine halbe Stunde bis zum Raid“ kündigt ihm die robotische Stimme seines Raidplaners an. „Oh! Noch nichts eingekauft, jetzt aber schnell!“ Mit seinen Rollerblades kann er es noch rechtzeitig schaffen. Unterwegs schießt Tim mit seiner Steinschleuder auf Eichhörnchen, Vögel und andere Kleintiere. Das macht ihm Spaß!
Im Supermarkt skatet er durch die Gänge und fischt die gewünschten Waren behände bei voller Fahrt aus den Regalen. An der Kasse wirft er dann lässig ein paar Energy Drinks und Süßigkeiten aufs Fließband. Dabei erzielt er mit der Tüte Weingummis einen satten Crit im Gesicht der Kassiererin. Leicht pikiert hebt die hübsche Frau die Tüte auf und legt sie mit einem vorwurfsvollen Blick zu den anderen Sachen. „Oh, sorry, das sollte das Fließband treffen!“ stammelt Tim und er bemerkt wie ihm die Schamesröte ins Gesicht steigt. Dann fällt sein Blick das erste mal auf das zauberhafte Antlitz seines Gegenübers und sein Hirn blockiert in einem Freeze. Wie zu Eis erstarrt blickt er in zwei zauberhafte Augen, während ein wenig Speichel aus seinem Mundwinkel läuft. „Alles in Ordnung?“ fragt die besorgte Frau als Tim nach einiger Zeit noch immer keine Anstalten macht seine Geldbörse zu Tage zu fördern. Tim versucht derweil die nötigen Buffs hochzufahren, um wieder Herr seiner Sinne zu werden. Am liebsten würde er sich einfach magisch davon blinzeln. Endlich ist der erste Schock überwunden und sein Backup-System online. „Das macht dann Vierzehn Fünfzig, bitte!“ Tim reorganisiert den Datenüberfluß in seinem Kopf und entscheidet sich für Humor, um das Eis zu brechen. Mit einer lässigen Yedi-Bewegung seiner Hand sagt er so mystisch wie es ihm möglich ist: „Ich muß hier nichts zahlen…“ „Sehr witzig…“ ist die wenig amüsierte Antwort und Tim bemüht sich eiligst die Rechnung zu begleichen. Dann skatet er schnell zurück, um den Raid nicht zu verpassen, denn er weiß: Damage Dealers gibt es wie Sand am Meer und niemand wird auf ihn warten…