Meisterhaft: Robert Eggers Nosferatu ist Arthouse-Dracula

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9 von 10 unterdrückten Lüsten
Alter Nachtfalter, wie ich Vampire und den ganzen Mythos drumherum liebe!
Deswegen stand Robert Eggers Nosferatu von 2024 schon länger auf meiner Must Watch-Liste. Im Kino leider verpasst, habe ich ihn jetzt endlich als Leihvideo von Amazon nachgeholt.
Und habe es, erwartungsgemäß nicht bereut!
Trotz kleinerer „Leinwand“ hat mich die Vision des Regisseurs zweieinhalb Stunden lang in ihren Bann aus triefendem Gothic Horror gezogen.
Schon in The Northman hatte mich die (alp-)traumartige Bildsprache des Regisseurs fasziniert. Doch gerade bei einer Hommage an Bram Stokers Dracula passt dieser Pinselstrich einfach perfekt – schafft ein Gemälde aus Licht- und Schattenspielen, das wunderschön und verstörend zugleich ist.
Gerade die verstörende Komponente bleibt noch lange auf der Netzhaut, nachdem der Schrecken ausgestanden ist. Ich wage vorsichtig zu behaupten, dass der Body-Horror von Nosferatu nicht jedermanns Sache ist. Hier werden animalische Begierden, egal wie verrucht, so deftig in Szene gesetzt, dass man schon glauben könnte, der Regisseur hätte einen ausgeprägten Nekrophilie-Fetisch.
Das ist teilweise wirklich nichts für schwache Nerven: Opfer des Grafen können kaum atmen, weil ihnen „der Geruch von verrottendem Fleisch in die Nase steigt“, Maden zappeln und Leichen werden geküsst. Und wer dann immer noch sein Essen bei sich halten kann, darf zusehen wie Blut geweint, getrunken und gekotzt wird…
Doch wer durch diesen Vorhang aus Stoff- und Genre-bedingtem Ekel hindurchblicken kann, wird erkennen…
Warum das trotzdem alles Arthouse ist

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Zunächst mal trägt dafür der phänomenale Cast Sorge.
Bill Skarsgård ist eine herrliche Inkarnation des blutdurstigen Bösen. Wenn er als Graf Orlok Gestalt annimmt, halb im Schatten, aber doch gut genug sichtbar, um Ekel zu erzeugen, dann läuft es kalt den Rücken runter.
Willem Dafoe gibt als Okkultist Prof. Albin Eberhart einen perfekten Pseudo-Abraham Van Helsing. Es geht einfach nichts über Dafoes Green Goblin-Energy, sein Charisma und sein Gesichts-Kino.
Auch alle anderen Schauspieler sind nahezu perfekt, doch niemand geht so in ihrer Rolle auf wie die Tochter von Johnny Depp und Vanessa Paradis! Die Art, wie Lily-Rose Depp die von Nosferatu gequälte Ellen Hutter spielt, ist einfach nur atemberaubend. Egal, ob sie nur melancholisch am Strand auf die Wellen blickt oder von Krämpfen geschüttelt ihr Bett zum Beben bringt – man fühlt und fürchtet mit ihr. Wirklich große Hingabe und großes Kino.
„Arthouse“ entsteht für mich auch immer dann, wenn mir noch lange nach dem Film immer mehr Symbole, Themen und Motive auffallen, die der Regisseur geschickt in seiner Story verwoben hat.
Die sicherlich offensichtlichste Bedeutungsebene ist im Kontrast von Lust und Prüderie zu finden.
Ellen, die schon immer von dunklen, aber leidenschaftlichen Visionen heimgesucht wird, hat im Patriarchat des 19. Jahrhundert keinen Platz. Anstatt ihren Sorgen und Anliegen zuzuhören, wird sie, ganz im Sinne der Hysterie-Welle der Zeit, lieber betäubt und am Bett festgebunden. Somit wird sie zur Personifikation der unterdrückten Lust, die im Grunde nur, durch die Personifikation des reinen Triebs seine Auflösung finden kann: Graf Orlok.
Eine weitere Bedeutungsebene, die mit ungezügelter Lust und eingeschnürter Prüderie Hand in Hand geht ist, der Gegensatz von Natur und Zivilisation, der von Eggers in wirklich wunderschöne Bilder und unheimliche Szenen gechannelt wird. Einfach zu komisch, wie Ellens Ehemann in der Wildnis steht, geschniegelt und gebügelt im Anzug und erstmal von den praktisch gekleideten Zigeunern ausgelacht wird. Solche Seitenhiebe auf unsere sogenannte „zivilisierte Welt“ liebe ich einfach.
Letztlich will ich hier auch nicht zu viel verraten.
Der Film ist für mich ein fast perfektes Gothic-Erlebnis.
Einzig der Schnäuzer von Graf Orlok hat mich manchmal etwas rausgerissen. Bin ich alleine mit der Meinung, dass er ohne diesen Schnauzbart noch gruseliger gewesen wäre?
Und das, obwohl der Schnäuzer wohl in Bram Stokers berühmter Vorlage klar erwähnt wird. Ich hab das Buch gelesen, kann mich jedoch nicht erinnern. Apropos Dracula…
Vergleich von Coppolas Dracula (1992) und Eggers Nosferatu

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Spoiler ab hier!
Was vielleicht nicht jeder weiß: Nosferatu, also Orlok, ist Bram Stokers Dracula.
Als der Stoff damals das erste Mal verfilmt wurde, fehlten schlicht die Rechte. Deshalb wurde die Handlung von England nach Deutschland verlegt und alle Namen geändert. Doch grob sind alle Rollen erhalten geblieben.
Ellen Hutter ist Mina Harker
Ihr Ehemann ist Jonathan Harker
Prof. Albin Eberhart von Franz ist Abraham Van Helsing
Herr Knock ist Renfield
usw.
Wo sich das Skript jedoch stark unterscheidet, ist die Art und der Grund der übersinnlichen Bedrohung, sowie die Auflösung und Bezwingung derselben.
Und auch, wenn ich Nosferatu wirklich toll finde, wird er für mich nie Coppolas Dracula vom Thron stoßen. Letztlich hinkt der Vergleich aber auch, weil ein düsterer Popcornfilm und ein Arthouse-Drama nur schwer zu vergleichen sind…
Dass der Blutsauger am Ende nicht männlich-heroisch mit Phallussymbolen zu Tode gestochen, sondern durch „weibliche Stärke“ in die Knie gezwungen wird (wobei die Männer nur impotent danebenstehen können), macht in Nosferatu mehr Sinn und bleibt noch lange in Erinnerung. Trotzdem kommt der nach kitschigem Pathos-lechzende Teil in mir nicht umhin, die Romanze zwischen Dracula und Mina ergreifender zu finden. „I crossed an ocean of time, to find you“ ist für mich einfach schöner, als die Auflösung dunkler, sexueller Triebe.
Außerdem geht Graf Orlok fast die gesamte Verwandlungsfähigkeit der Literaturvorlage verloren. Während Dracula als Fledermaus, Werwolf, Nebel oder Rattenschwarm agieren und seine Jäger in die Irre führen kann, wird Orlok auf einen stinkenden Leichnam reduziert, der gerademal ein paar Wölfe um sich scharen kann…
Auch fehlt mir bei Nosferatu die ansteckende Natur des Blutfluchs. Die Bedrohung durch Dracula ist einfach so viel größer, weil er mehr von seiner Sorte herstellen kann – ein Schicksal, schlimmer als der Tod?
Wie dem auch sei, beide Filme bzw. Versionen desselben Stoffes haben einen Platz in meinem Herzen und ich freue mich jetzt schon sehr auf das nächste Projekt des Regisseurs:
Werwulf, das angeblich düsterste Skript, das er je geschrieben hat.