Ruinierter Höhepunkt: Netflix‘ Der Brief für den König

© Netflix

Achtung, ich werde nun kurz einen Plot schildern, der so haarsträubend und nicht von dieser Welt ist, dass Menschen von schwächerer mentaler Konstitution vielleicht unkontrolliert zu schreien anfangen.

Der sechzehnjährige Schildknappe Tiuri muss als letzte Prüfung vor dem Ritterschlag eine Nachtwache halten. Alles was er tun muss, ist bis morgens rumsitzen und sich von nichts und niemandem stören lassen. Doch da in keiner Welt jemals etwas einfach so glatt gehen kann, klopft nachts ein Fremder an die Pforte und schickt den disziplinlosen Türöffner auf eine gefährliche Mission: Er soll einen hoch brisanten Brief zum König bringen. Hintergrund: Der zweitgeborene Sohn des Königs, war sickig darüber, dass er nie den Thron seines Vaters besteigen würde und ihm von diesem NUR der ganze Süden des Reiches zum Regieren überlassen worden war. Grund genug für den verwöhnten Zankapfel einen Krieg mit dem Norden anzufangen. Nach langen Kämpfen und Eroberungen hatte er schließlich ein Friedensangebot zum Herrn Papa geschickt. Und hier kommt der Brief von Tiuri ins Spiel. Darin steht, dass das Friedensangebot nur eine Finte ist, um mit seinen Truppen bei Papa einfallen zu können. Kleines, mieses Aß.

Soweit die krasse Story des Jugendromans De brief voor de Koning der Niederländerin Tonke Dragt von 1962. Gut, ist eben für Kinder geschrieben worden. Da darf man wohl kein Game of Thrones erwarten.

In einer deutsch-niederländischen Coproduktion gab es bereits 2008 eine Verfilmung des Stoffs. Der Trailer zeigt jedoch ganz gut, was passiert, wenn man in Zeiten von Herr der Ringe eine simple Mittelalter-Geschichte ohne Magie und Mord erzählt.

Genau, bohrende Langeweile macht sich breit. Was natürlich auch der Vorlage eines Coming of Age-Romans geschuldet ist, der sich eher an ein jüngeres Publikum richtet.

Enter: Schamanen, Sidekicks und Hokuspokus

Den “Fehler” der 2008er Verfilmung wollte Netflix jedoch nicht machen und ballerte eine gehörige Ladung Magie und Sitcom-Komödie in seine Version des Stoffs. Letztlich kann bei Netflix‘ sechsteiliger Serie bestenfalls noch von einer „Inspiration“ durch das Buch gesprochen werden.

Und alles fängt wirklich „nett“ an.

Die Drehorte in Neuseeland, in Kombination mit rein retuschierten Mittelalterstädten und -Burgen, bilden eine kuschelig-märchenhafte Atmosphäre. Zudem macht ein anständiger Cast aus jungen und älteren Schauspielern einen recht glaubwürdigen Job auf diesem abenteuerlichen Roadtrip. Es hat alles Charme. Es war nicht atemberaubend spannend, aber ich habe mich genüsslich zurückgelehnt.

Auch die Ausweitung von Tiuris (Amir Wilson) Wegbegleitern von gelegentlichen Rittern und Pilgern auf eine ganze Truppe von jungen Ritter-Anwärtern schafft eine amüsante Sitcom-Dynamik. Besonders, als der „Barde“ der Truppe beim Reiten durchs Unterholz seine Klampfe bemühte, entzündete sich erneut der Toss a coin to your witcher-Ohrwurm in meinem Geist.

Ganz rechts “der Barde” mit Rittersporn-Vibe © Netflix

Doch die drastischste Änderung der simplen Grundstory ist das krampfhafte Hineinflechten von Prophezeiungen, Schamanen-Kult und Zauberei. „Herr der Ringe-Injektion“ ist eben dieser Tage ein Muss.

Doch was anfänglich noch zur Spannung und Mystik der Serie beizutragen weiß, wird spätestens in der letzten Folge zur Dung-Explosion, die alles Bisherige besudelt.

Das ist SO SCHADE! Neuseeland, die sympathischen Schauspieler und eine budgetschwangere Ausstattung hätten dieser Jugendbuchverfilmung ein Plätzchen auf irgendeinem Treppchen bescheren können. Doch so bleibt nur ein äußerst fader Nachgeschmack.

AB HIER SPOILER!

Wenn der Blutmond am Himmel steht

„…und die Scheiße den Ventilator trifft“, hätte ein zusätzlicher Untertitel lauten müssen.

Mir ist immer noch ein wenig übel, von der letzten Der Brief für den König-Folge.

Der junge Tiuri ist in der Netflix-Variante also der Sohn eines mächtigen Schamanen? So weit so gut. Er hat ständig Visionen von der unvermeidlichen Zukunft und entdeckt langsam aber sicher seine Kräfte.

Als er im Kloster der Pilger einen Wutausbruch hat und seine Gegner anschreit, wird sein Ausbruch von einer Schockwelle begleitet, die alle von den Füßen reist. JAU BABY! Now we are talking.

Ende Folge 5: Pustekuchen. Die Frau an seiner Seite hat die Macht, nicht er. Tada! Überraschung!

Wait what? Obwohl Tiuri der Sohn des Schamanen ist und die Visionen hat, kam die Magie die ganze Zeit von seiner Möchtegernfreundin Lavinia? (Übrigens sehr charmant gespielt von Ruby Ashbourne Serkis, der Tochter von Andy Serkis, der ebenfalls eine Rolle hat.)

Ok, ich verstehe, der Zeitgeist muss getroffen werden. Eigentlich haben Frauen die Macht. Ist ja soweit auch ein interessanter Twist. Nur sollte der auch glaubwürdig herbeigeführt werden. Bisher ging die Magie immer eindeutig von Tiuri aus (Siehe Kloster) und dann kann er auf einmal nix mehr? War mir persönlich um der Überraschung Willen zu sehr an den Haaren herbeigezogen.

Doch wenn das nur alles gewesen wäre. Dann kam ja noch die letzte Folge mit diesem anti-epischen Finale der Albernheiten.

Ich gebe mal gekürzt den sinnlosen Ablauf wieder:

  • „Bist du bekloppt, Tiuri? Wir kommen doch niemals in die Stadt! Unmöglich! Geschweige denn in den Palast! Glaubst Du, jemand könnte einfach so da eindringen und würde zum mächtigsten Mann des Landes vorgelassen?“ (Spoiler: ja)
  • Wenig später latschen die jungen Ritter kurz durch die Kanalisation und sind in der Stadt. Widerstandslos. (Jedoch ohne ihre neue Zauber-Freundin. Die war von allem irgendwie geschockt und ist einfach abgehauen. Ohne Grund.)
  • Dann kommen sie ohne Probleme in den Palast bis kurz vor den Audienzsaal des Königs. Dort werden sie von den roten Rittern und einer Verräterin gestellt, die scheinbar irgendwie geahnt haben, wann und wo die jungen Ritter auf den Plan treten würden.
  • Nach einem unwürdigen Kampf Erwachsene gegen Kinder wird „der Barde“ der Truppe getötet (Dass dieser kurz einen gleichgeschlechtlichen Kuss am Lagerfeuer ausgetauscht hat, hat ihn uns nicht automatisch so ans Herz wachsen lassen, dass uns sein Tod, ohne weitere Charakterentwicklung und Vertiefung der Beziehung, irgendwie berühren könnte, sorry).
  • Beim Kampf schafft es Tiuri irgendwie, also keine Ahnung wie, den Brief wieder an sich zu reißen und damit zum König zu rennen.
  • Als er damit 3 Meter ca. in den Audienzsaal des Königs gelaufen ist, lässt sein Erzwidersacher sofort von der Verfolgung ab. Scheisse. 3 ganze Meter ist der schon im Raum. Unmöglich ihn da noch wegzufischen. Das sind immerhin 3 Meter! Sonst hätte ich ihm einfach den Mund zuhalten und sowas rufen können wie „Ein Taschendieb, Entschuldigung eure Majestät, hab ihn jetzt, weitermachen!“ Besonders weil ja die anderen Adligen es genauso sehen und einer betont, dass niemand da einfach so reinplatzen darf.
  • Und dann kommt das Beste: Während der König Tiuris Brief vorliest, schielt der böse Prinz Viridian zum Fenster, wo gleich der Blutmond aufgegangen ist. Im Moment seiner Enttarnung kämpft er mit seinem guten Bruder und wird von diesem erstochen. Warum, weiß niemand. Nicht, dass der verwöhnte Warmduscher gegen den Killer in tausend Schlachten irgendeine Chance hätte. Es sei denn Viridian, der Killer, hat sich absichtlich erstechen lassen. Klar, vielleicht stimmt ja eine verstaubte Prophezeiung, dass er nach seinem Tod zu einer großen Furzwolke wird.
  • Tatsächlich, es stimmt. Er wabert nun völlig ungefährlich als eine Art Rauchwolke mit Gesicht, die wohl eine Art böse Dunkelheit darstellen soll, in der hinteren Ecke des Raums.
  • Doch tada! Das fesche Madl mit der Power ist zurück. Da ja irgendwie doch jeder einfach so in die Stadt, in den Palast und bis zum König spazieren kann, taucht sie im richtigen Moment auf, um äh… Glühbirne zu spielen. Ja, kein Witz. Ihre Magie besteht darin hell zu leuchten. Und die böse Furzwolke so: Aaaaaah, nicht leuchten, Schlampe, ich bestehe doch jetzt aus impotenter Dunkelheit, aua, aufhören. Kampf vorbei. Ein weniger episches Finale habe ich nie gesehen.
  • Alle jungen Ritter – bis auf den besten der Truppe, den Barden – werden trotz der nicht bestandenen Nachtwache ob ihres Mutes zum Ritter geschlagen. Selbst der kleine Junge, der nur so im Gepäck war und immer beschützt werden musste. Ritterschlag bedeutet scheinbar einiges in diesem Land. Und schau, wer die Jungs und Babys zum Ritter schlägt! Die Königin! Hatte der böse Prinz Viridian sie nicht in seinem Zelt erwischt und ihr so schwarze Augen angehext? Dachte die wäre tot? Scheinbar nicht. Wurde ja nie erklärt.

Tja, so lässt sich eine solide Fantasy-Serie vor grandioser Kulisse in der finalen Folge noch in einen großen Witz verwandeln. Well done.

Ich kann also Der Brief für den König durchaus als seichte Unterhaltung empfehlen. Folge 1-5. Bitte so tun, als würde die 6. Folge noch gedreht und nachgereicht. Dann habt ihr das irgendwann vergessen und alles ist gut.

Über Thilo (1200 Artikel)
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