Blind Guardian – Soundtrack meines Lebens
Wenn ich besoffen bin, habe ich immer die besten Ideen.
So überzeugte mich neulich ein Sixpack Pilsener Urquell dazu einen Artikel zu schreiben, den ich eigentlich schon lange hätte tippen müssen: Über die deutsche Heavy-Metal-Band Blind Guardian und wie sie mein Leben beeinflusst hat.
Irgendwann in den 90ern spaltete sich auf dem Schulhof eine kleine Gruppe seltsamer Gesellen ab, die scheinbar (hoch aktuelles Thema) unter einer Art Virus litten. Sie ließen sich ihre Haare langwachsen, trugen nur noch schwarze Klamotten und aus ihren Walkmans oder MiniDisc-Playern dröhnte furchtbarer Krach.
Ich hatte Fragen.
Schon bald mussten auch bei mir Roxette, Ace of Base und Two Unlimited “vorzeigbarer” Musik wie Blind Guardian, Manowar und Running Wild weichen. Band Shirts waren ab sofort die einzig akzeptable Kleidung – nur zu langen Haaren wollte meine krause Haarpracht leider nie taugen. Meine störrische Frisur hätte sich zunächst zu schwindelerregender Höhe aufgetürmt, bis sie sich endlich hätte der Schwerkraft ergeben müssen. Diesen Afro-Conehead im Übergangsstadium des Grauens wollte ich niemandem antun. Keine Ausrede, ich weiß…
Im Verlauf der folgenden Jahre waren dann viele Bands klingender Genres wie Power-, Speed-, Viking-, Black- oder Epic-Metal die musikalische Untermalung zu Fantasy und Saufen. Doch keine Band schrieb den Soundtrack zu meinem Leben wie Hansi und seine Bandkollegen von Blind Guardian.
Die Speed Metal-Gruppe mit hartem Tolkien-Einschlag passte einfach immer.
Egal, ob ich meine Machtfantasien im Pen & Paper auslebte, auf meinem Amiga 500 die Raubkopien blutiger Spiele wie Moonstone zockte oder mich einfach nur in meine eigene Welt zurückziehen wollte, wenn ich wütend auf meine Eltern war: Blind Guardian kreischte dazu.
Holy Crap, während ich dies tippe, höre ich ihre ersten 5-6 Alben und kann die Songs immer noch alle lippensynchron mitsingen.
Somewhere far Beyond war mein erstes Blind Guardian Album. Und ich kann zu meiner Schande noch nicht mal mehr sagen, wer mich das wunderbare Blut des Speed-Metal lecken ließ. Natürlich hatte ich vorher schon „Rock“ gehört. Mit Kiss, Bon Jovi und Queen kamen wir uns schon beinhart und verwegen vor. Doch Blind Guardian war anders. So herrlich anders! Mit seinen schnellen, aber melodischen E-Gitarren, dem „Geknüppel“ des Double Bass, den schrillen Stimmen… es war wie die gesungene Aufforderung sich in eine Fantasy-Metal-Welt zu flüchten und anders zu sein. Es war das Portal in eine Welt von verfilzten langen Haaren, Band-Shirts und abgeschlagenen Ork-Köpfen. Es war der Mitgliedsausweis für das Team der Realitätsflüchter, Rebellen und Nerds. Damals, als „Nerd“ noch eine Bedeutung hatte und nicht jedem Depp mit Internetanschluss attestiert werden konnte.
Als ich aktiv die Somewhere hörte, waren manche meiner Freunde noch in einer supersorglos-Watte-Welt gefangen und hörten Eric Clapton, Dire Straits oder Phil Collins. Es brauchte jedoch nicht übermäßig viel Überzeugungsarbeit, um sie alle ins Rettungsboot des Metal zu holen.
Nach Somewhere far beyond kaufte ich mir die Tales From The Twilight World, die ich fast noch mehr liebte und rauf und runter hörte. So viele knackige Songs und vor allem Track 4: The Lord of the Rings! Diese Hommage an den großen Tolkien war für Twilight das, was für die Somewhere der Bard’s Song war – eine herrlich ohrwurmige Ballade, die auf jedem Konzert vehement von den Fans gefordert wurde.
Apropos Konzert. Niemand hat gelebt, wenn er nicht auf einem Konzert so eine Ballade mitgegrölt hat!
Meine erste Blind Guardian-Konzertkarte habe ich immer noch uneingelöst hier rumliegen. 40 Fieber nannte sich der schlechte Scherz des Universums, als meine Freunde ohne mich loszogen. Doch 3 Jahre später (was hat mich aufgehalten?) holte ich mein Blind Guardian-Konzert im Kölner E-Werk endlich nach.
Mittlerweile Hardcore-Fan, kaufte ich mir nach der Tales From The Twilight World natürlich auch die ersten beiden Alben der Band, Battalions of Fear und Follow the Blind, die jedoch noch sehr viel roher, weniger melodisch und natürlich einfach noch nicht Blind Guardian auf ihrem Höhepunkt waren.
Doch nach der Somewhere far beyond war die Band noch nicht ganz auf ihrem vorläufigen Höhepunkt angelangt und feuerte 2 weitere Knaller-Alben in die Quantensuppe.
Dazu muss erwähnt werden: Wenn Blind Guardian damals ein neues Album rausgebracht hat, war das ungefähr so, wie wenn heutzutage ein neuer Avengers in die Kinos kommt oder ein neues Diablo angekündigt wird. Die Fantasy-Tolkien-Metal-Nerds flippten aus.
Beide Alben waren tiefe Verbeugungen vor dem, was die Band schon immer am besten konnte: Ohrwurm-Bombast-Metal mit reicher Fantasy-Lore dahinter.
Während die Imaginations from the Other Side 1995 mit ihren Alice in Wonderland-Spiegelwelten-König Artus-Mystik schon intensive Nerd-Orgasmen auslöste, schoss Blind Guardian mit der Nightfall in Middle-Earth endgültig Gandalf den Riesenadler unter dem Arsch weg.
Die Nightfall war mit ihrer düsteren Silmarillion-Atmosphäre unter Fantasy-Jüngern ein feuchter Traum. Über 20 geniale Songs, von denen Into the Storm, Mirror Mirror, Noldor, Time stands still und Thorn immer noch zu meinen liebsten Machwerken der Band zählen. Purer Pathos-triefender Gänsehaut-Bombast-Metal. Grölende Tolkien-Nerds mit E-Gitarren. Godlike.
Doch wie alles Gute, musste auch Blind Guardian den Weg alles Irdischen gehen. Zumindest meine Blind Guardian-Zeit neigte sich zusammen mit den glorreichen 90ern dem Ende zu.
Warum kann ich gar nicht mehr sagen. Sicherlich war Blind Guardians 2002er Album, Night at the Opera, für viele ein zu krasser Stil-Bruch. Vielleicht hatte sich die Gruppe aber auch nur weiterentwickelt, während wir bei den härteren Klängen hängen geblieben waren. Und bei Tolkien.
Wenn ich mir jedoch nun die offizielle Discographie der Gruppe anschaue, muss man wohl großen Respekt zollen. Die Jungs sind all die Jahre weiter sehr aktiv gewesen. Erst letztes Jahr ist die Scheibe Legacy Of The Dark Lands erschienen.
Auch wenn ich mir ihr wichtigstes Gesamtwerk, in Form von Blind Guardian: A Traveler’s Guide to Space and Time, vor ein paar Jahren schon gekauft habe, werde ich mich die Tage mal durch die 4 Studioalben hören, die ich verpasst habe. Mal sehen, ob sie nochmal zu ihren Wurzeln zurückgefunden haben.
Doch selbst wenn, wird es vermutlich nie mehr das in mir auslösen können, was wir alle damals empfanden, als wir inmitten von zwanzigseitigen Würfeln, Disketten und Magic-Karten im Kreis saßen.
Als wir uns in die Augen starrten und uns fragten, wer wir sind und was das alles soll.
Als uns noch jeder Song in mystische Gedankenwelten voller Zauber, Heldentaten und Herzschmerz entführte.
Damals, als ich so vieles noch vor mir hatte: Meine erste Liebe. Mein erstes gebrochenes Herz. Die Geburt meines Sohnes.
Und das unweigerliche Auflösen meiner Form in hoffentlich erst vielen Jahren.
Zurück in den Ozean der Möglichkeiten.
Nach Hause.