Momo with the Mojo: Expressionistische Kalligraphie auf Endzeitspielplätzen
Verlebt. Verlassen. Verloren.
Gespenstisch malen sich die Klettergerüste meiner Kindheit gegen das Zwielicht eines bewölkten Tages ab. Mit zögernden Schritten durchquere ich diesen einstigen Hort des Lebens und des Kindergelächters. Nun sind die Rufe verstummt und das bunte Treiben ist nur noch ein Echo in meiner Erinnerung. Das Holzhäuschen der Rutsche ist von Moos überwuchert, die Ketten der Schaukeln sind verrostet und das kleine Schaukelpferd ist kaum noch als solches zu erkennen, vom Zahn der Zeit zu Unkenntlichkeit genagt.
Doch wie die Höhlenmalereien aus prähistorischer Zeit erzählt mir die Edding-Kalligraphie im Inneren des Rutschenhäuschens von den Gedanken und Träumen einstiger Vagabunden. Was ich hier vorfinde ist nicht bloß Schrift. Die Sätze sind brennende Leidenschaft aus menschlichen Herzen auf Holz geflossen. Infantile, doch bewegende Lyrik von jungen Krieger-Poeten in einer oft gnadenlosen Welt. Ich möchte im Folgenden den Versuch wagen die kurzen Einblicke in menschliches Leben zu deuten und vielleicht auch etwas von ihnen zu lernen. Beginnen wir mit…
Momo with the Mojo
Hier wurde scheinbar eine gewisse „Momo“ verewigt und geehrt. Einem schamanischen Würdentitel gleich wird die Essenz der Person als vom Mojo begünstigt beschrieben. Wir dürfen annehmen, dass es sich um eine sehr empathische und intuitive Person gehandelt haben muss. Momo war sicherlich in ihrer Zeit eine Streitschlichterin, eine Vorreiterin und manchmal auch einfach nur eine gute Freundin, zu der man kommen konnte, wenn ein Schuh drückte. Danke Momo.
Miri ist meine
Zarte Romanzen wie diese finde ich häufiger, als ich ehrfürchtig die alten Holzbretter nach lyrischen Schätzen durchsuche. Der Autor findet schnörkellose, aber dafür sehr klare und eingängige Worte, um seine Beziehung zu einem anderen menschlichen Wesen zu verewigen. Der Besitzanspruch schockiert zunächst in seiner parataktischen Finalität, doch die zarte Gefühlsregung einer ersten Liebe schillert zwischen den Worten. Nach den Worten. Im nicht Gesagten.
Denise ist meine Zuckerpuppe
Ein gewisser Tim drückt ebenfalls seine Wertschätzung für seine Geliebte aus. Durch den simultanen Vergleich mit Zucker und einer Puppe, vermischt sich seine kindliche Unverdorbenheit mit dem sinnlichen Erleben der Süße einer ersten Liebe. Leider wurde der Autor scheinbar in einer hitzigen Auseinandersetzung von dannen gerissen, bevor er ausführen konnte, was er sich von seiner Angebeteten erhoffte: „Blass mir ein…?“ Ich grüble kurz. „…ein wenig Deiner ätherischen Liebe entgegen, meine Holde“ vermute ich schmunzelnd, doch wir werden es vermutlich nie erfahren.
Denise ist unsere
Und dann bin ich verblüfft. Scheinbar habe ich einen frühkindlichen Vorstoß in die reifen Gefilde der polyamoren Liebe gefunden. Die noch jungen Herzen, überschäumend von unschuldiger Liebe für alles und jeden auf dieser Welt, legen demütig ihre Besitzansprüche nieder und reichen einander die Hände, auf eine beschämend unkomplizierte Weise, wie ich es selbst in der Welt der Erwachsenen nur selten fand. Ich weine in Ergriffenheit.
Denise Du bist die größte Bitch der Welt!
Ernüchterung, aber auch Erleichterung breitet sich in meiner Brust aus, als ich dies lese. Schön zu sehen, dass die kleinen Künstler und Liebenden, trotz aller Reife, die ihnen eine düstere Welt abverlangt, immer noch zu Ausbrüchen reiner und ungefilterter Gefühle fähig sind. Hier wird dem Gebaren von Denise auf eine nur allzu menschliche Weise Rechnung getragen. Ich muss mir erneut eine Träne verkneifen. Der Autor der Worte schließt noch zwei weitere Vorreiter einer polyamoren Lebensweise in seinen Gefühlsausbruch mit ein und legt damit unwillentlich Zeugnis ab für eine Gemeinschaft von Menschen, die in großen Teilen bereits sehr liberal mit dem menschlichen Gut „Liebe“ umgeht.
Boxenluder, Schlampen griegen alle was auf die Lampen
Ich lächle und blinzle ein paar Tränen hinfort, als die melancholische Schwere frühkindlicher Beziehungen durch ein humoristisches Stück Poesie aufgehellt wird. In diesem schlichten Paarreim schafft es der Künstler so viele Missstände der modernen Gesellschafft anzuprangern, dass es mir fast die Luft zum Atmen raubt. Die aus Not geborene Objektifizierung und Instrumentalisierung einiger Frauen wird in unseren Fokus gerückt und durch das Symbol der ausgeschlagenen Lampen mit einem gesellschaftlichen Fragezeichen versehen. Geht diesen Damen bald durch ihre schlecht bezahlten Berufe in der modernen Welt finanziell das Licht aus? Ich habe einen Kloß im Hals und nehme mir vor später noch eingehender über die Botschaft nachzudenken.
Fritz Du kleines verficktes Arschloch
Einem gewissen Fritz wird hier unterstellt beim Ausleben körperlicher Gelüste einen gesunden Rahmen verlassen zu haben. In den zunächst schroff und beleidigend wirkenden Worten schwingt jedoch ehrliche Sorge und, durch die Verniedlichung, auch ein kleines Augenzwinkern mit. Hier soll jemand, pädagogisch wertvoll, freundlich aber bestimmt, zurück auf den rechten Weg gebracht werden. Ich könnte mir auch vorstellen, dass hier eine liebende Mutter ihrem „Kleinen“ ein kurzes, in leicht zu verstehende Metaphern verpackte, Stück Lebensweisheit hinterlassen wollte. Wieder bemerke ich Tränen die meine Wange hinunter kullern.
Boah! Ey ihr Opfer! Wer schreibt hier über mich!
Konflikte und Auseinandersetzungen werden hier scheinbar schon sehr erwachsen und in Schriftform zur Sprache gebracht. Der Verfasser lässt es sich nicht nehmen durch bedrückende Bilder wie „Opfer“ und „Missgeburten“ auf den Ist-Zustand einer Gemeinschaft aufmerksam zu machen, die scheinbar bereits von innen heraus krankte. Trotzdem möchte er mit positivem Beispiel voran gehen und durch eine Zurschaustellung unerschütterlichen Selbstbewusstseins, auch im Angesicht infamer Beschuldigungen, ein Licht in der Dunkelheit sein. Er weiß auch selbst, dass er “geil” ist. Er schließt mit der Aufforderung an die Gemeinschaft sich weiterhin körperlich gegenseitig zu wertschätzen. Meine Taschentücher gehen zur Neige.
Popl Gang Nelzo Aggro 1 Love 1 Gang
Doch bei allem Zwist und Streit, der in jeder Ansammlung menschlicher Individuen normal, ja sogar unverzichtbar ist für die Reifung zu einem wertvollen Mitglied der globalen Gemeinschaft, herrscht hier ein starkes Gefühl der Verbundenheit vor. Die „Popl Gang“ stellt sich nach außen aggressiv ihren Problemen, während sie nach innen Liebe und Gemeinschaft praktiziert. Mit diesem wunderschönen Spruch und einer Formel für mehr Frieden auf der Welt, möchte ich diesen Ausflug in die urbane Kunst auf verlassenen Spielplätzen beenden.
Ich hoffe, ich konnte ein wenig nachdenklich und vielleicht sogar etwas neugierig machen. Vielleicht schaut der ein oder andere demnächst etwas genauer hin und nimmt sich die Worte der damals Jungen und heute Alten zu Herzen. Ich möchte mit einem letzten Stück Kalligraphie enden, welches mir der Künstler scheinbar, als kleines Dankeschön für meinen Bericht, aus der Vergangenheit übermittelt hat. Liebe kennt eben keine Grenzen, weder Zeit noch Raum.