Religiöser Tiger
Um Nerven aufreibenden Stress im Berufsverkehr zu meiden, fahre ich zur Zeit jeden Tag mit dem Zug nach Köln zur Arbeit. Die gute Stunde Fahrzeit, die ich in den senil klappernden Wagons der DB verbringe, nutze ich, um meine Hirnwindungen mit ein wenig Literatur zu ölen.
Denn wie jeder weiß, lässt Leerlauf oder monotone Wiederholungsarbeit einen Menschen langsam aber sicher verdummen. Wissenschaftler haben kürzlich sogar herausgefunden, dass Senilität nicht mit hohem Alter, sondern mit dem allgemeinen Brachliegen der Hirne unserer lieben Rentner zu tun hat, die ihren Lebensabend schon mal gerne mit Gaffen am Fenster oder lustigen Cartoons auf Kika verbringen. Das menschliche Gehirn ist eben nicht nur, wie scheinbar bei Spielern von Second Life, ein aufgeweichtes Brötchen mit Platzhalterfunktion, sondern ein Muskel, der trainiert werden will. Der Spruch „Lesen bildet“ sollte darum lieber lauten „Dumm? Bücher schützen.“ Ob der Werbeslogan allerdings den Durchschnittsdeppen erreicht, bleibt zu bezweifeln. Da wird einem auch schlagartig klar, warum der streng gekämmte Mann mit der kleinen, schwarzen Milchbremse einst alle Bücher verbrennen lassen wollte. Eine Armee von Zombies läßt sich eben deutlich leichter befehligen, als ein Heer von Dichtern und Denkern…aber ich schweife ab.
Yann Martels The Life of Pi, welches für den deutschen Markt mit Schiffbruch mit Tiger betitelt wurde, ist ein „Survival Book“ mit einer gesunden Portion Humor und Tiefgang. (Unnötig zu erwähnen, dass ich es im Original gelesen habe, da Übersetzungen IMMER Grütze sind. Wer der Origianlsprache eines Buches mächtig ist, tut immer gut daran der Faulheit oder Willkür eines Übersetzers aus dem Weg zu gehen.) Ich hatte den Wälzer bei einem Kumpel entdeckt und war durch die Behauptung im Vorwort des Buches „nach der Lektüre dieser Geschichte werden sie an Gott glauben“ zu neugierig geworden, um es nicht zu lesen.
Es handelt von dem jungen Piscine „Pi“ Molitor Patel, der in einem Indien der prächtigsten Farben aufwächst. Sein Vater ist der Besitzer eines großen Zoos, in dem Pi den Großteil seiner Kindheit verbringt. Das hat neben lebenslangem, freien Eintritt zur Folge, dass er die Tiere und ihre Verhaltensweisen besser kennt als Jacques Cousteau oder Heinz Sielmann. Angenehm dabei ist, dass man diesen Grad der geistigen Expertise anscheinend durch reine Beobachtung erreichen kann, ohne, wie der Crocodile Hunter seiner Zeit, einem ausgewachsenen Löwen den Daumen in den Popo stecken zu müssen…
In seinen jungen Jahren ist Pi außerdem ein begeisterter Schwimmer. Er zieht jeden Morgen brav seine Bahnen, bis er so gut geworden ist, dass er das Wasser nicht mehr als zähen Sirup, sondern als flüssiges Licht empfindet. Als begeisterter Schwimmer, der letzten Sommer noch so richtig fit war, kann ich diese Beobachtung nur als vortrefflich bezeichnen. Es macht Spaß wie der Autor die Dinge bildhaft beschreibt und dabei hin und wieder mit Synästhesien jongliert. Wer gerne beim Lesen das Gehirn massiert bekommt und banale Romane von der Güte einer Einkaufsliste bescheiden findet, ist mit Life of Pi also gut beraten. Alle anderen lesen bitte Harry Potter.
Pi’s dritte Leidenschaft ist die Religion. Und zwar jede. Pi hält es mit den Religionen wie der Sultan mit den Frauen: Wieso nur eine genießen, wenn man alle haben kann? So mausert er sich durch verschiedene Erlebnisse zu einem gläubigen Moslem-Hindu, der die Bibel liest. Pi’s philosophische Exkursionen diesbezüglich sind jedoch niemals ermüdend, an den Haaren herbei gezogen oder ethnozentrisch. Er beleuchtet die positiven Aspekte jeder Glaubensrichtung und bleibt stets vorurteilsfrei. Man bekommt beinahe Lust die Bibel, den Koran oder die Veden zur Gutenacht-Lektüre zu machen.
Wir fassen also zusammen: Pi kann hervorragend schwimmen, kennt sich mit wilden Tieren aus und ist ein omnipotenter Theologe. So gerüstet kann ihn der Autor also guten Gewissens mit einer Arche voller Tiere auf dem Meer aussetzen. Durch politische Unruhen in Indien verunsichert, beschließt Pi’s Vater mit seiner Familie und dem kompletten Zoo per Schiff nach Kanada umzusiedeln. Warum nicht, ist mal was anderes….
Durch ein Unglück, dessen Ursache für den Leser im Verborgenen bleibt, sinkt das Schiff jedoch und reißt Mann und Maus mit sich in die Tiefe. Nur Pi kann sich in ein großes Rettungsboot flüchten und der Katastrophe entgehen.
An dieser Stelle die Preisfrage: Was ist noch blöder als einsam in einem Rettungsboot über das Meer zu treiben? Richtig. Die selbe Situation, nur es ist noch ein ausgewachsener, bengalischer Tiger mit an Bord. Dies bemerkt Pi allerdings nicht, da die Schmusekatze, die den Namen Richard Parker trägt, zunächst unter einer Plane verborgen ist. Erstmal darf Pi einem Zebra mit gebrochenen Beinen und einem Orang-Utan beim Abnippeln zuschauen. Das dauert jedoch nicht allzu lange, da eine gnädige Hyäne, die es ebenfalls ins Boot geschafft hat, die ganze Sterberei ein wenig beschleunigt.
Vor dem Lesen dieses Buches scheine ich völlig irrige Vorstellungen von der Größe eines Rettungsbootes gehabt zu haben. Das, oder der Autor war auf Gras.
Pi hat erstmal natürlich schreckliche Angst vor dem Aasfresser, bis er die Anwesenheit des Tigers bemerkt und in einen Zustand resignierter Gelassenheit überwechselt. Angesichts des Königs der Jäger (kein anderes Landtier greift einen ausgewachsenen Elephanten an) muss das alberne Hündchen dann seine Pole Position abgeben und wird mit einem fast beiläufigen Prankenhieb ins Jenseits befördert. Nach ein paar Tagen hat Richard alle Überlebenden des Unglücks verspeist, bis auf den Jungen…
Was nun für Pi folgt, ist der erbitterte Kampf gegen den Tiger, den Hunger und die Einsamkeit. Alles, was er in seiner Kindheit gelernt hat kommt ihm nun zu Gute. Letztendlich dressiert er den Tiger, wird Nahrungs-technisch zum Überlebenskünstler und fällt durch seine positive Denkweise erstmal nicht der Verzweiflung anheim. Ich möchte an dieser Stelle nicht verraten, ob er überlebt und was ihm alles auf dem Meer zustösst, da es äußerst spannend und lesenswert ist.
Mir persönlich, ist beim Lesen mal wieder ganz klar geworden, dass ich leidenschaftlicher Fleischfresser bin. Immer wenn Pi, der auf offener See sein Vegetarier-Dasein sehr bald an den Nagel hängen muss, eine Meeresschildkröte k.o. schlug und ihr warmes Blut trank, um nicht zu verdursten, habe ich übelst Hunger bekommen. Vielleicht bin ich auch nur ein verkappter Vampir?
Das Buch hat mir aber natürlich in erster Linie auf Grund der erfrischenden Beobachtungsgabe seines Autors sehr viel Vergnügen bereitet. Besonders die authentischen Beschreibungen des Tigers waren ein Genuss für mein inneres Auge. Ich denke mit wohligem Behagen an meine Pubertät zurück, als noch ein Tiger auf einem Badetuch an der Wand über meinen Schlaf wachte. Aber nicht nur Tiger-Liebhabern dürfte dieses Buch gefallen. Das Zitat der San Francisco Chronicles auf dem Cover des Buches bringt es für mich auf den Punkt: „Life of Pi is a real adventure…It’s difficult to stop reading when the pages run out.“