Kurzgeschichte: Der Dau
Es war ein friedlicher, lauer Sommerabend.
Der Geruch von frisch gemähter Wiese vermischte sich mit dem von gegrillten Würstchen aus der Nachbarschaft. Tagsüber waren es über dreißig Grad gewesen, doch nun wehte aus dem Tal, wo ein kleiner Bach in einem schattigen Wald vor sich hin plätscherte, eine angenehm kühle Brise zu den Gärten empor.
Kai bewunderte das strahlende Orange seines Bierglases, als er es gegen das Licht der untergehenden Sonne betrachtete. Das hatte er sich verdient. Der kleine Schreihals lag endlich friedlich träumend im ersten Stock in seinem Bettchen und auch sonst waren sämtliche Hausarbeiten erledigt.
Es war Freitag, der Tag an dem seine Frau Karolin ihren Ausgeh-Abend genießen durfte, während er den Nachwuchs zu unterhalten hatte. Keine leichte Aufgabe, denn der fast zweijährige Benjamin war ein kleines Energiebündel, das am liebsten rund um die Uhr die Welt erforschte. Natürlich mit Papa an der Hand, der sich dabei nur selten mal eine Ruhepause gönnen durfte. Manchmal fragte sich Kai, ob es so schlau gewesen war sich mit fast vierzig noch ein Kind anzuschaffen. Er war einfach nicht mehr so fit wie früher. Seine jugendliche Abenteuerlust und Kraft hatten sich, allen Klischees gerecht werdend, in reife Gelassenheit und Trägheit verwandelt.
Er bereute seine Entscheidung zur Fortpflanzung jedoch nur selten. Denn trotz aller Entbehrungen und Herausforderungen würde er seinen kleinen Thronfolger nie mehr hergeben wollen. Der Kleine brachte ihn zum Lachen. Eine Fähigkeit, die ihm in den Mühlen des Alltags und des Arbeitslebens fast abhandengekommen war. Es schien, als würde ihn der Kleine nochmal seine eigene Kindheit durchleben lassen.
Er nahm einen weiteren Schluck von seinem Bier und schielte auf den Bildschirm des Baby Phons, welches er gut sichtbar auf der Gartentreppe aufgestellt hatte. Die Infrarotkamera zeigte ihm ein kleines, zusammengerolltes Knäuel, das seinen Stoffhasen als Kissen benutzte. So friedlich, wie er da lag. Er fragte sich, was er nach dem aufregenden Tag wohl gerade träumte. Konnten Babys überhaupt schon träumen? Und wenn ja, was? Jungfräuliche Kinderaugen nahmen die Welt ja noch ganz anders war, noch ungetrübt durch die Definitionen der Erwachsenen. Sie lebten in einer Welt der Magie und der Mystik. Er beneidete Benjamin ein wenig darum.
Erwachsen zu sein hatte jedoch auch seine Vorteile. Man konnte abends im Garten sitzen und Bier trinken und hatte auch keine Angst mehr vor dem Staubsauger. Seinen nächsten Schluck Bier hätte Kai fast ausgespuckt als ihn eine Erinnerung zum Lachen brachte. Das Verhältnis zwischen seinem Sohn und dem Staubsauger konnte bestenfalls als „gespannt“ bezeichnet werden. Immer, wenn es sich nicht vermeiden ließ, den Staubsauger in seinem Beisein losheulen zu lassen, heulte Benjamin gleich mit. Mit ausgestrecktem Arm zeigte er dann in die Richtung des laut dröhnenden Unruhestifters und rief anklagend seinen Namen: „DAU!“
„Staubsauger“ konnte der Kleine noch nicht sagen, doch Karo und er hatten schnell herausgefunden, was „Dau“ in Babysprache bedeutete. Meistens musste einer von ihnen Benjamin auf den Arm nehmen und mit ihm im Nachbarzimmer warten, während der andere ein von Baby-Hand verursachtes Schlamassel wegsaugte. Der unheimliche Staubsauger mit seinem scheußlichen, Dreck-saugenden Rüssel war scheinbar zu bedrohlich für den kleinen Mann. Kai gluckste erheitert und nahm noch einen Schluck Bier. Dann wurde sein Haar von einem kalten Windstoß zerzaust.
Er blickte verblüfft über die entfernteste Hecke seines Gartens, wo die Wipfel des Waldes plötzlich von Windböen geschüttelt wurden. Kommt ein Sturm auf? Fragte er sich. Er blickte rechts und links in die Nachbargärten, wo er zwischen den Zweigen der Hecken bis eben noch die Köpfe anderer Leute gesehen hatte. Da war niemand mehr. Fast so, als wären alle sofort in ihre Häuser geflüchtet, weil sie wussten, dass das Wetter umschwingen würde. Er war allein.
Die Kamera des Baby Phons schien zudem Empfangsschwierigkeiten zu haben. Der Bildschirm knisterte und rauschte. Und der Wind war jetzt so stark, dass er sicher war, dass der Empfänger jeden Moment von der Treppe geweht würde. Er stand auf und steckte die Kamera ein. Seltsam, dachte er. Es waren überhaupt keine Wolken am Himmel zu sehen, doch die Luft roch intensiv nach Gewitter. Und jetzt auch noch nach etwas anderem. Er verzog angewidert das Gesicht. Etwas Verbranntes stieg ihm in die Nase, was er nicht zuordnen konnte. Es roch, wie er sich einen Kabelbrand vorstellte, auch wenn er sowas noch nie gerochen hatte. Er sah alarmiert zum Haus empor. Konnte irgendwo ein Feuer ausgebrochen sein? Er roch es jetzt ganz deutlich. Irgendetwas war verschmort, so als ob ein großes Elektrogerät durchgebrannt war. Das waren definitiv nicht mehr die grillenden Nachbarn. Kai musste jetzt fast würgen, so intensiv war der Gestank.
Er ließ sein halb getrunkenes Bier am Liegestuhl stehen, rannte die Treppe zum Balkon des Hochparterres hoch und fluchte, als die kleine Sicherheitstür für Babys mal wieder klemmte und ihn nicht sofort durchlassen wollte. Als er ins Wohnzimmer trat schienen die letzten Strahlen der Sonne blutrot durch die Terrassentür und hüllten seinen Umriss in infernales Licht.
Holz splitterte. Lautstärke und Richtung machten die Küche am wahrscheinlichsten. Er bahnte sich einen Weg durch die Sitzgruppe vor dem Fernseher und das angeschlossene Esszimmer, während der Wind hinter ihm lautstark durch das Balkongeländer pfiff. Vor der angelehnten Küchentür angekommen, konnte er vor Gestank kaum noch atmen. Obwohl nirgends Rauchentwicklung festzustellen war, musste er husten und Tränen schossen ihm in die Augen. Dieser Gestank!
Panisch stieß er die Tür auf. Im entfernten Teil der Küche lag die Tür vom Putzschrank auf dem Boden, scheinbar mit Gewalt aus den Angeln gerissen. Kai wollte gerade den Raum betreten, als er erstarrte. Etwas kam aus dem Schrank!
Vor das rötliche Licht des Fensters schoben sich langsam, auf und ab wogend wie Schlangen, zwei schwarze Tentakeln, so dick und lang, als gehörten sie zu einem monströsen Tintenfisch. Einer wickelte sich um den Griff des Fensters, während der andere an der linken Schrankwand entlang tastete. Sein Herz raste und drohte ihm aus dem Hals zu springen, als sich ein klobiger Schatten an diesen Tentakeln aus dem Schrank zog. Mit einem lauten Knacken setzte eine Art Roboter auf dem Küchenboden auf und drehte sich mit Hilfe großer Räder in seine Richtung. Als im Kopfteil der Maschine ein Schlitz aus rotem Licht aufleuchtete, flüsterte eine kleinlaute Stimme in ihm „Lauf doch weg…bitte, lauf doch weg!“ Doch er konnte nur stehen und starren, mit einem Kloß im Hals, der nach verbranntem Gummi schmeckte und mit kraftlosen Beinen, die wie durch Stahlkabel am Boden gehalten wurden.
Dann erklang eine monotone Stimme, so blechern, wie man es aus schlechten Science Fiction-Film kennt. Sie verkündete sein Schicksal: „Der Dau ist aktiviert. Der Dreck muss aufgesaugt werden. Menschen sind Dreck!“
Ein lautes Getöse erhob sich im Raum, so als hätte jemand die Turbine eines Flugzeugs eingeschaltet. Es war das Geräusch eines Staubsaugers, nur lauter, so viel lauter! Gleichzeitig erwachte ein dritter Tentakel am Bauch des Roboters zum Leben und erhob sich bedrohlich in die Luft, wie eine angriffslustige Schlange. Kai erkannte ihn als den ursprünglichen Schlauch, der an dem guten alten Miele hing, vor dem sein Sohn so eine Angst hatte. Er bildete nun den Mittelteil eines kranken Tentakel-Schlauch-Killerroboters.
Kai war weiterhin von Furcht und Unglauben gelähmt. Es muss ein spastisches Zucken seiner durchdrehenden Zellen oder ein letzter Schutzmechanismus seines Körpers gewesen sein, der ihn sich unter dem vorpeitschenden Schlauch wegducken und zurück taumeln ließ. Alle Schranktüren in der Küche flogen krachend auf, während Gemüse, Zettel und Scherben von Geschirr umher gewirbelt wurden.
Fast wahnsinnig vor Angst stolperte er zurück in Richtung Terrassentür, um aus der Enge der Räume zu entkommen und draußen um Hilfe zu schreien. Er wusste nicht wie schnell die Höllenmaschine auf ihren Rollen war, traute sich jedoch auch nicht zurück zu blicken. Draußen wurde er von einem Chaos aus umher fliegenden Ästen und statischen Entladungen begrüßt. Die Welt war scheinbar durchgeknallt wie eine alte Sicherung. Er hechtete die Treppe zum Garten hinunter und hörte eine Stimme, die sich heiser pfeifend und mit letzter Kraft über dem Sturm erhob. Es war ein Rentner auf dem angrenzenden Balkon: sein Nachbar, Herr Meier. Im Schlepptau hatte er seine Frau, die auf ihn einredete und versuchte ihn wieder zurück ins Haus zu ziehen. „Was zum Teufel ist bei Ihnen los?“ brüllte er zu Kai in den Garten hinunter.
In diesem Moment wurden die Panoramaglasscheiben der Terrassentüren mit einem ohrenbetäubenden Klirren nach innen gesaugt und durch den Scherbenregen fuhr der Killerroboter auf den Balkon. Die Eheleute schrien in Panik und wichen zurück. Der alte Mann wäre fast rückwärts über seine Frau gefallen, wenn er nicht von einem Schlauch nach vorne gesaugt worden wäre. In Bruchteilen von Sekunden wurden Haut und Haare vom Kopf des Mannes gerissen und in den angreifenden Rüssel gesaugt. Ein grotesker, blutiger Schädel blieb übrig, der kurz seinen Schmerz heraus schrie, bevor er implodierte und ebenfalls eingesaugt wurde.
„Dreck!“ dröhnte der Dau. „DRECK!“
Kai kotzte. Eine eklige Mischung aus Mettbrötchen, Bier und Verdauungssäften rann über sein Kinn, als die restlichen Körperteile der Meiers eingesaugt wurden. Er blicke sich panisch um und seine Augen tasteten nach dem besten Fluchtweg. Dann traf es ihn wie ein Schlag.
Der Kleine!
Mit hämmerndem Herzen und schwitzend vor Panik zog er den Empfänger des Baby Phons aus der Tasche und blickte auf den Monitor. Sein Sohn schlief. Tief und fest. Wie konnte er durch den ohrenbetäubenden Lärm noch nicht aufgewacht sein? Es war egal. Er musste erst mal den furchtbaren Dau vom Haus weglocken und dabei am besten auch noch selbst überleben. Irgendwo in seinem Hinterkopf, in einem dunklen, versteckten Winkel, glimmte immer noch ein Fünkchen Hoffnung, dass das alles nur ein grauenvoll-realer Alptraum war, aus dem er jeden Moment aufwachen würde.
Er blickte hinauf zum Balkon und wurde bleich. Die Maschine hatte sich gerade im Kreis gedreht und rollte zurück ins Haus. Ben! Seine Beine setzten sich sofort in Bewegung, obwohl er eigentlich keinen klaren Gedanken fassen konnte. Doch glücklicherweise schien inmitten von Lärm, Gestank und unsagbarem Horror sein Unterbewusstsein ein klares Vorgehen für seinen Körper angeordnet zu haben: Am Rosengitter hochklettern, über das Dach des Vorbaus sprinten und durch das offene Schlafzimmerfenster hechten. So konnte er sein Kind vor dem Dau erreichen.
Während er in kurzer Hose kletterte, rissen die Dornen der Rosen blutige Striemen in seine Hände und Waden. Das Adrenalin ließ ihn jedoch kaum etwas spüren und er betete nur, dass das Blumengitter sein Gewicht halten konnte. Oben angekommen bluteten seine Hände stark und warmes Blut tropfte auf das moosige Vordach. Er spurtete los, erst auf allen vieren, dann aufrecht, als er seine Balance gefunden hatte. Gott sei Dank hatte er das Fenster, früher am Abend, nicht nur angelehnt, sondern wegen der Hitze ganz aufgemacht. Als er mit einem gewaltigen Satz, der aus Verzweiflung geboren war, auf der Fensterbank landete, konnte er an der entfernten Wand des Schlafzimmers sehen wie mit einem lauten Bersten die Tür aus den Angeln gesaugt wurde. Wie war der klobige Roboter auf Rollen nur so schnell die Treppe hinauf gekommen? Das kleine Kinderbett am Fuß des Ehebetts stand nun genau zwischen ihm und der Todesmaschine. Wieso schlief sein Sohn immer noch?
Er hechtete in Todesverachtung nach vorne und riss das schlafende Bündel aus dem Bett. Er hatte es kaum auf den Arm genommen, als das Kinderbett auch schon, laut über den Boden schrammend, zum Dau gesaugt wurde und zersplitterte.
„Menschendreck!“
Dann wachte sein Sohn auf.
Das turbinenartige Getöse der Maschine erstarb sofort, gleichzeitig mit dem Heulen des Sturms draußen – so als hätte jemand einen Universal-Stecker gezogen. Der Roboter fiel mit lautem Scheppern in sich zusammen und die Saug-Tentakeln sanken zu Boden wie Gartenschläuche ohne Wasserdruck. In der plötzlichen Stille fing Benjamin an zu weinen und krallte sich an Kais T-Shirt fest. Er tröstete ihn und küsste ihn auf den Kopf: „Papa ist ja da, alles ist gut.“ Mit immer noch wild pochendem Herzen und weichen Knien tastete er im Halbdunkel des Raums nach dem Lichtschalter und fand ihn schließlich.
Im Türrahmen, inmitten der Überreste des Kinderbetts, lag der kleine rote Miele-Staubsauger, der doch eigentlich im Putzschrank auf seinen nächsten Einsatz warten sollte. Die Anzeige zum Wechseln des Beutels stand auf Maximum und Blut quoll aus den Ritzen. Schluchzend und noch ein wenig schlaftrunken-blinzelnd zeigte sein Sohn auf den Miele, unter dem sich eine dunkle Blutlache bildete: „DAU!“
„Staubsauger heißt das Ding!“ entfuhr es Kai wütend, „es gibt keinen Dau!“
„Tut mir leid“, sagte er, als Ben wieder zu heulen begann. „Papa, versteht nur nicht, was gerade passiert ist.“
Sein Sohn schluchzte als Antwort in sein T-Shirt, das schweißnass und blutbespritzt an ihm klebte. Er konnte Sirenengeheul hören, das jetzt in der Ferne durch den Ort hallte.
Plötzlich spürte er, wie Benjamins Hand aufgeregt in seine Brust kniff. Er hob ihn ein Stück höher, um in seinem Gesicht lesen zu können. Der Kleine machte große Augen und zeigte auf eine Kommode neben dem Bett: „PIEK!“
Da stand eine Nähmaschine.